Ufstellerli
Auf meinen Spaziergängen regen mich oft scheinbar banale oder bis dahin unbekannte oder unbeachtete Gegenstände und Situationen wie auch Begegnungen mit, bekannten und mir bis dahin unbekannten, Personen zu Gedankenspielen an. Spielen oder philosophieren kann zu abstrakten und unerwarteten neuen Sichtweisen sowie zum Hinterfragen von Ausdrücken und Bewortungen führen.
Seit zwanzig Jahren schreibe ich solche Gedankenexperimente auf und lege sie im Ordner Gedankenspiele ab. Damit diese nicht in meinem Computer verstauben, werde ich vier Mal im Jahr eine dieser „Kurz Geschichten“ als Ufstellerli veröffentlichen.
Auf dieser Seite und in gedruckter Form als Ufstellerli, die ich in meinem persönlichen Umfeld sowie an Leute, denen ich neu begegnen werde, verteilen.
Die Geschichten dürfen kopiert und verteilt werden. Dies unter der Bedingung, dass mein Name als Autor und Urheber in den Kopien genannt wird.
Per E-Mail bestellte, gedruckte Exemplare sende ich kostenlos an Besteller.
Ich wünsche Spass und Unterhaltung, sowie Anregungen zu eigenen Gedankenspielen.
Ufstellerli 1
Das Bächlein
Das Fenster in meinem Schreibzimmer ist weit geöffnet an
diesem heissen Sommermorgen. Das Bächlein, das vor dem Fenster zu Tale fliesst,
ist kaum hören. Demütig ist es geworden, einsam, als ob es sich schäme, zu
einem Rinnsal geschrumpft zu sein. Das wenige Wasser das es führt, schleicht um
jeden Stein, nur noch selten gelingt es ihm, über einen Stein zu fallen und
Geräusche von sich zu geben. Beinah entschuldigend, lässt es in seinem
erbärmlichen Zustand noch wenige Gurgeltöne von sich geben. Seit die Hitze und
Trockenheit die Quellen, oben im Wald, es nur noch spärlich nähren und die
brennende Sonne, vom wenigem Wasser auf dem Weg ins Tal, ihren Teil davon zu
sich hochzieht, wird es jeden Tag bescheidener. Selbst im Dürresommer 2018,
trocknete es nie aus, immer schaffte es ein kleiner Rest Wasser bis ins Tal zum
Fluss, den es mit anderen Bächlein aus den Seitentälern speist. Es hat gelernt,
in Zeiten des Mangels, sparsam mit dem Element seiner Daseinsberechtigung
umzugehen.
Auch wenn es noch einige Zeit dauern wird, es wird der Regen sein, der dem
Bächlein wieder neuen Lebensmut schenken wird. Es wird wachsen. Wasser wird
über die Steine im Bachbett plätschern, übermütig und verschwenderisch das Ufer
bespritzen. In der Gischt wird Sonnenlicht brechen und in allen Farben des
Regenbogens aufleuchten. Laut und selbstbewusst wird es allen zeigen, es hat es
geschaffen die Zeit der Kümmernis zu überwinden. Ausgerechnet das von vielen,
als Schlechtwetter verrufene, wird dem Bächlein Kraft und Freude zurückbringen.
Der Regen mit Wind und Trübe begleitet, schickt das Lebenselixier Wasser.
Regenwetter, bringt meinem Bächlein seine Lebensfreude zurück. Vergessen werden
die traurigen Tage des Mangels und des beinahe verlorenen Stolzes und
Selbstvertrauens.
Hans Schaub
2019
Befestigt mit einem dünnen, gelochten
Stahl-Band, um das, sich mit zunehmender Länge
verjüngenden Rohrs, hängt ein Spiegel. Am Ende, der Stange ist eine Leuchte
befestigt, mit der sie die Dunkelheit in ihrem Umfeld vertreibt. Ein Strassenschild,
vervollständigt die multifunktionelle bedeutung
der Lampe.
Ein elendes Leben führt der konvex geformte Spiegel. Tag und Nacht bei jedem
Wetter, sieben Tage die Woche, ohne einen einzigen Urlaubstag, hängt er am Mast
der Laterne. Ein freudloses Dasein. Kein Mensch schaut in diesen Spiegel um
sich als sein Ebenbild zu sehen, keine Frau benutzt ihn, um sich zu schminken,
um gepflegter zu erscheinen. Nicht wie sein Kollege, der beim Coiffeur vor dem
Sessel steht, kann er verfolgen, wie sich Köpfe verändern, wie aus Brünetten,
Blondinen werden, Haare kurz geschnitten, andere verlängert, kunstvoll
aufgetürmt oder in Locken gelegt werden. Auch den Klatsch der Kundinnen und
Kunden anzuhören, bleibt ihm versagt.
Auch das sich dabei zu amüsieren wie den Coiffeusen,
die neuesten Geheimnisse zugetragen werden, mit der Gewissheit, dass diese
umgehend und weit gestreut werden.
Er wird verschont vom Anblick der
Tränen der Mädchen, die in ihrem ersten Liebeskummer, die Pickel im
sommersprossigen Gesicht zählen.
Nein niemand schaut in den Spiegel an der Strasse, um sich darin zu sehen. Wer zu ihm aufschaut, ist erst dann zufrieden, wenn Niemand darin zu sehen ist und die Strasse in die er oder sie einbiegen will, frei ist, sich kein Fahrzeug vor der unübersichtlichen Kurve sich nähert. Stumm und pflichtbewusst wie die Wächter vor dem Buckingham Palast, ohne die Mimik zu verändern, noch zu murren, weder belohnt noch gelobt zu werden, erfüllt er seine Aufgabe. Nur im Winter oder Herbst gibt es Tage, an denen er von an ihm kondensierenden Nebeltropfen blind wird. Nein, blind wird er nicht, er kann ja auch nicht sehen. Seine Fähigkeit liegt im Reflektieren von Objekten in seinem Sichtfeld.
Nur kurz werden seine im Nebel sichtbaren schwächen erkennbar, doch standhaft wie er ist, wird er nach solch miesen Tagen, weiter zuverlässig und uneingeschränkt allen, ob Kind, Mann, Frau, Reich oder Arm, stumm dazu verhelfen, ungefährdet in die Straße, an der er am Mast hängt, einzubiegen. Keiner bedankt sich bei ihm, es ist sein Schicksal, dass es nicht gelingt zu zählen, wie viel Leid und Kummer er verhindert, wie viele Menschen ihm ihre Unversehrtheit zu verdanken haben. Im Namen der unzähligen Menschen, die seine Dienste gedankenlos und selbstverständlich täglich beanspruchen, danke ich dem Spiegel und wünsche ihm und seinen unzähligen Kollegen, dass er verschont bleibe vor Vandalismus.
Hans Schaub, geschrieben Juli 10